Geplant nach sozialistischem Vorbild, entstand in der DDR der 1950er Jahre die Planstadt Stalinstadt. Sie wurde als Wohnstadt für das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) auf dem Reißbrett entworfen. Anschließend wurde sie direkt angrenzend zu dem Eisenhüttenwerk errichtet. Im Zuge der Entstalinisierung wurde Stalinstadt im Jahr 1961 dann in Eisenhüttenstadt umbenannt. Heute ist Eisenhüttenstadt ein Geheimtipp für Ausflüge rund um Berlin. Oder eher für eine Zeitreise in die sozialistische Vergangenheit. In den Wohnkomplexen ist die Atmosphäre der DDR noch spürbar. Vieles, was die sozialistische Planstadt Eisenhüttenstadt ausgemacht hat, ist hier noch erhalten. In meinem folgenden Artikel erfahrt ihr, was Eisenhüttenstadt so besonders macht und was ihr hier sehen könnt. Mit meinen Fotos möchte ich versuchen, das Verschwinden der architektonischen Zeugnisse der Vergangenheit aufzuhalten und vor dem Vergessen zu bewahren.
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Anfahrt und Tourentipp
Eisenhüttenstadt liegt etwa 25 Kilometer südlich von Frankfurt (Oder) und 110 Kilometer von Berlin entfernt. Von Berlin Mitte fahrt ihr mit dem Auto etwa eine Stunde und dreißig Minuten. Mit dem Zug fahrt ihr am besten mit dem RE1 von Berlin bis Frankfurt (Oder) und anschließend mit dem RE11 weiter nach Eisenhüttenstadt. Das Rathaus im Zentrum ist dann in etwa 30 Minuten zu Fuß oder mit dem Bus erreichbar.
Ich hatte für die Erkundung von Eisenhüttenstadt für unsere kleine Gruppe eine Führung mit Berlins Taiga organisiert. Berlins Taiga bietet private Führungen, aber auch Touren zu festen Terminen an. Die Führung war sehr Informativ und ist sehr empfehlenswert. Unser Guide Martin Maleschka ist ein Guide aus Leidenschaft und hat uns seinen Geburtsort mit viel Begeisterung gezeigt.
Eisenhüttenstadt als Aushängeschild des Sozialismus
Im Juli 1950 hat die SED auf ihrem Parteitag den Bau des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) beschlossen. Dazu sollte eine angrenzende Wohnstadt gebaut werden. Als Standort für diese komplette Stadtneugründung wurde dabei eine Fläche westlich von Fürstenberg (Oder) ausgewählt. Für diesen Standort sprach zum Einen die Nähe des Flusses Oder, zum Anderen die bereits vorhandene Bahnlinie.
Die neu gegründete Stadt sollte eigentlich nach Karl Marx benannt werden. Der Tod Stalins am 05. März 1953 führte jedoch zu dem Namen „Stalinstadt“. Mit Stalinstadt entstand eine Vorzeigestadt, quasi ein Aushängeschild für den Sozialismus. Jeder, der hier für ein gutes Gehalt arbeiten und wohnen konnte, war stolz darauf. Aus diesem Gund zugen tausende junge Familien in die Planstadt. Denn hier lebte man besser, als an vielen anderen Orten in der DDR. Ende des Jahres 1953 hatte die junge Stadt bereits 2.400 Einwohner, im Jahre 1960 waren es schon zehnmal so viele. Die höchste Einwohnerzahl erreichte Eisenhüttenstadt schließlich im Jahr 1988 mit etwa 53.000 Menschen.
Stalinstadt – eine Planstadt nach sozialistischen Grundsätzen
Stalinstadt wurde als sozialisitische Planstadt nach den „16 Grundsätzen des Städtebaus“ geplant und errichtet. Diese Grundsätze waren ab 1950 für etwa fünf Jahre lang das Leitbild für den Städtebau der DDR. Sie waren von den Idealvorstellungen der „sozialistischen Stadt“ geprägt. Bei der Planung orientierte man sich zudem an Vorbildern des sozialistischen Neoklassizismus der Stalin-Zeit und der preußisch-deutschen Architektur. Stalinstadt wurde dabei zunächst für 25.000 Einwohner ausgelegt.
Berliner werden bei einem Spaziergang durch die sozialistische Planstadt Eisenhüttenstadt Ähnlichkeiten mit der Karl-Marx-Allee (ehemals Stalinallee) entdecken. Denn die Bebauung dieser Straße entstand zeitgleich mit Stalinstadt. Im Zuge der Entstalinisierung waren beide Namen jedoch nicht mehr erwünscht. Aus diesem Grund wurden sie im Jahr 1961 umbenannt: Die Stalinallee wurde zur Karl-Marx-Allee und Stalinstadt wurde zur Eisenhüttenstadt.
Die Wende – eine Stadt löst sich auf
Fast 70 Jahre sind seit dem Beschluss zum Bau von Stalinstadt vergangen. Etwa 40 Jahre lang wuchs die Stadt und bot zudem vielen Menschen eine Zukunftsperspektive. Doch mit der Wiedervereinigung vor etwa 30 Jahren hat sich das Leben hier verändert. Denn wie überall in der ehemaligen DDR wurden Arbeitsplätze abgebaut, es folgten Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Die Einwohnerzahl sank währenddessen um die Hälfte auf heute etwa 24.000.
Viele Wohnungen standen nun leer. Die Stadt reagierte darauf mit einem Stadtumbauprogramm. Dabei wurden Balkone und Fahrstühle angebaut, Wohnungen wurden zusammengelegt und saniert. Der gesamte Wohnkomplex VII – der mit den günstigsten Mieten – wurde hingegen abgerissen. Aus den übrigen Wohnkomplexen wurden jedoch nur einzelne Gebäude herausgenommen. Dadurch blieb das Zentrum weitgehend als solches erhalten.
Die „Wohnstadt des Hüttenwerks“ steht heute mit Wohnkomplex I, II und III als größtes Flächendenkmal Deutschlands unter Schutz. Zusätzlich stehen noch weitere einzelne Gebäude unter Denkmalschutz. Wohnkomplex IV hat seinen Denkmalstatus allerdings verloren, da zu viele Wohnblöcke heraus genommen wurden.
Impressionen aus der sozialistischen Planstadt Eisenhüttenstadt
Einige Elemente der sozialistischen Planstadt Eisenhüttenstadt, die ihr heute noch sehen könnt sind:
- Wohnkomplex I bis VI
- der Zentrale Platz mit dem Rathaus
- die leicht gebogene Magistrale Lindenallee (früher Leninallee) mit mehreren markanten Bauwerken
- mehrere Mosaike an den Gebäuden
- Sowjetisches Ehrenmal
- Großgaststätte Aktivist
Die Wohnkomplexe I bis VII
Die Stadtbebauung liegt südlich vom Stahlwerk und ist dabei fächerförmig gestaltet. Die Bebauung unterteilt sich in sogenannte Wohnkomplexe. Zwischen den Jahren 1959 und 1964 wurden die Kern-Wohnkomplexe I bis IV gebaut. Es waren gemauerte Gebäude, keine Plattenbauten. Die ersten Gebäude aus dem Jahr 1951 waren einfach und schmucklos, die Wohnungen waren zudem klein und nur für die Arbeiter gedacht. Etwa 25.000 Bewohner sollten damals in Stalinstadt ihre Heimat finden. Ihr findet die ersten Häuser in der Rosa-Luxemburg-Straße.
In den Jahren 1952/53 wurden die Wohnungen dann größer geplant, so dass die Familien Platz in ihnen fanden. Die Gebäude wurden architektonisch etwas ansprechender. Dafür wurden beispielsweise Gebäudeteile abgesetzt bzw. hervorgehoben und die Eingänge durch kleine Treppen und Vordächer aufgewertet. Der Wohnkomplex II, südlich der Straße der Republik, ist bereits deutlich schmuckvoller gebaut als der erste.
Als der Wohnraum nicht ausreichte, kamen bis 1965 Wohnkomplex V und VI dazu. Sie wurden in Großblockbauweise gebaut und hatten fließend Warmwasser und Heizung. Allein der Wohnkomplex VII ist in der für die DDR typischen Plattenbauweise errichtet.
Jeder Wohnkomplex war autark. Das heißt, es gab einen Kindergarten, eine Schule und außerdem eine Kaufhalle. Auch diese waren mit Nummern versehen: So gab es in Wohnkomplex II auch die Schule Nummer II und Kaufhalle Nummer II. Im Jahr 1956 öffnete schließlich im Wohnkomplex VII die erste Kaufhalle mit Selbstbedienung. Momentan steht sie leer aber es gibt bereits Pläne für eine künftige Nutzung.
Auffallend war für mich als Berliner Stadtmensch die Ruhe, die einen innerhalb der Wohnkomplexe umgibt. Gut, die Straßen waren jetzt nicht so stark befahren. Doch sicherlich ist diese Ruhe auch der Stadtplanung zuzuschreiben.
Zentraler Platz
Gegenüber vom Rathaus öffnet sich der Zentrale Platz. Sein Name lässt darauf schließen, dass hier mal Größeres geplant war. Doch die Ressourcen in der DDR waren knapp. Daher konnten die geplanten Monumentalbauten um den Platz herum nicht wie vorgesehen realisiert werden. So kam es, dass damals lediglich das heutige Rathaus fertig gestellt wurde. Das Rathaus von Eisenhüttenstadt (siehe Titelfoto) wurde früher “Haus der Partei und Massenorganisation“ genannt.
Magistrale von Eisenhüttenstadt
Die Lindenallee (früher Leninallee) war damals die Magistrale und zieht sich leicht bogenförmig vom Zentralen Platz bis zum Stahlwerk. Sie erscheint heutzutage allerdings etwas überdimensioniert. Damals war sie jedoch, ebenso wie der Zentrale Platz, für Aufmärsche und Paraden vorgesehen. Links und rechts von der Magistralen reihen sich zudem markante Bauwerke auf: beispielsweise das ehemalige Kaufhaus Magnet und das City Hotel Lunik, der damalige IFA-Autopavillon, das Friedrich-Wolf-Theater sowie zahlreiche Geschäfte. Zum Teil sind noch die alten Werbeschriftzüge erhalten.
Mosaike
Am alten Kaufhaus Magnet (Lindenallee / Ecke Straße der Republik) seht ihr das Wandbild „deutsch-polnische-sowjetische Freundschaft“ (1964) von Walter Womaka. In unteren Teil des Glassteinmosaiks, ist die Eisenverarbeitung bildlich dargestellt. Die Hand ist umgeben von einem Hochofen. Aus der Hand des Arbeiters entfliegt die Friedenstaube in Richtung der Sonne und der Flaggen der DDR, Polens und der Sowjetunion.
Ein Wohnblock im Wohnkomplex I trägt ebenso ein schönes Wandbild aus Meissner Porzellan aus dem Jahr 1954. Es zeigt die für die DDR typischen Symbole: die Friedenstaube, eine Sonne und eine glückliche Familie. Ihr findet das Wandbild an der Kreuzung Rosa-Luxemburgstraße / Alte Ladenstraße.
Die Juri Gagarin Oberschule in dem Ludmilla-Hypius-Weg steht seit etwa fünf Jahren leer. Ihre Fassade ist mit einem großen Wandbild geschmückt. Es erzählt die Geschichte der Entwicklung des Sozialismus von Jägern mit Pfeil und Bogen bis hin zu der Raumfahrt. Hinter der Schule liegen außerdem zwei Turnhallen und eine Lehrschwimmhalle. Gegenüber von der Schule sind die Gebäude der ehemaligen Kaufhalle und ein Lokal. Auffallend ist die Gestaltung des Bodens mit Platten unterschiedlicher Farben und Strukturen.
Sowjetisches Ehrenmal
Am Platz des Gedenkens, im Wohnkomplex I, erinnert ein sowjetisches Ehrenmal an 4.109 Kriegsgefangenen, die hier begraben sind.
Großgaststätte Aktivist
Die Großgaststätte Aktivist wurde 1953 im Stil des sozialistischen Klassizismus erbaut. Nach der Wende wurde das Gebäude für rund fünf Millionen Euro restauriert und steht inzwischen unter Denkmalschutz. Heute ist die Gaststätte allerdings etwas kleiner und bietet etwa 100 Personen Platz. Der Name „Aktivist“ ist jedoch geblieben. Die restliche Fläche wurde in Büroräume umgebaut.
Tipp: Lasst euren Tag in der Gaststätte Aktivist ausklingen. Die Speisekarte bietet Abwechslung für den großen und den kleinen Hunger.
Das Stahlwerk von Eisenhüttenstadt
Der erste Hochofen des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) ging im September 1951 in Betrieb. In den folgenden vier Jahren kamen fünf weitere Hochöfen dazu. Das Werk bot damals bis zu 16.000 Menschen Arbeit. Heute ist jedoch nur noch ein Hochofen in Betrieb und es sind nur noch 3.000 Arbeitsplätze übrig.
Dennoch dominiert das Stahlwerk heute noch immer die Wirtschaft in Eisenhüttenstadt. Dieses nennt sich nun ArcelorMittal Eisenhüttenstadt GmbH. Es ist aus dem VEB Eisenhüttenkombinat Ost bzw. der EKO Stahl GmbH hervorgegangen. ArcelorMittal ist der weltweit größte Stahlkonzern mit 60 Werken in mehr als zwei Dutzend Ländern.
Das Stahlwerk liegt in direkter Nachbarschaft zur Innenstadt. Einzelne Anlagen könnt ihr sogar schon von der Lindenallee aus sehen. Wenn ihr etwas mehr Zeit habt, lohnt sich außerdem ein Spaziergang zu dem Werk. Allerdings könnt ihr es nur von außen ansehen. Werksbesichtigungen werden momentan nur zum Tag der offenen Tür oder für Bildungszwecke angeboten. Der Tag der offenen Tür ist meistens Ende August während des Stadtfestes.
Tipp: Ergänzt eure Städtetour in Eisenhüttenstadt doch mit einen Besuch im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR im Wohnkomplex II. Hier könnt ihr in die Alltagswelt vergangener Zeiten eintauchen und erfahrt außerdem mehr über die Geschichte der sozialistischen Planstadt Eisenhüttenstadt.
Buchempfehlungen für Liebhaber sozialistischer Architektur
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Vielen Dank für deinen schönen Artikel. Morgen fahre ich nach EHS und bin besser vorbereitet. 🙏🙃🤗
Hallo Grazia, lieben Dank! Freut mich, dass Dir mein Artikel gefällt. Ich wünschte Dir eine schöne Entdeckungstour in EHS. Ist ein faszinierender Ort 🙂
Sehr interessanter Artikel.
Architektonisch erinnert mich da nicht nur viel an die Berliner Karl-Marx-Allee, sondern auch an den (ursprünglich als eigene Stadt geplanten) Stadtteil Nowa Huta von Krakow.
Das dortige, nach Tadeusz Sendzimir benannte, Stahlwerk gehört heute interessanterweise zur selben Firma wie das ehemalige EKO in Eisenhüttenstadt.
Hallo Fatabbot!
Danke für dein Feedback, ich freu mich, dass dir mein Artikel gefällt. Und auch herzlichen Dank für den Tipp mit Krakau. Ich wollte schon immer mal die Stadt besuchen, den Stadtteil werd ich mir auf jeden Fall auch anschauen.
Liebe Grüße und hab ein tolles Jahr 2021, Mareike
Ich suche das ehemalige Tanzlokal Kosmos in Eisenhüttenstadt. Wüsste aus privaten Gründen gern ob es das Gebäude noch gibt.
Vielen Dank
Hallo Monika, da kann ich Dir leider nicht helfen. Vielleicht wissen die Angestellten aus dem lokalen Museum in Eisenhüttenstadt mehr. Viele Grüße, Mareike
Das Kosmos gibt’s noch. Im Fröbelring 25. Ist auch auf Facebook.
Vielen Dank für den Hinweis! Da werd ich bei Gelegenheit doch mal vorbei schauen.
Hallo Mareike,
vielen Dank für den gut recherchierten und wunderbaren Beitrag über meine Geburtsstadt und die schönen Bilder. Schön, dass Sie die Erinnerung an die damaligen Bauten hochhalten. Wenn Sie erlauben hier ein paar Ergänzungen:
Das im 2. Bild benannte Kulturzentrum war früher in dem einen Flügel das Pionierhaus und in dem anderen Flügel eine Musikschule, die ich selbst 7 Jahre besuchte. Der Weg nebenan hieß früher Pionierweg und ist heute als Ludmilla-Hypius-Weg nach der mir persönlich bekannten Großmutter eines Musiker-Freundes von mir benannt, die sich allergrößte Verdienste um die musikalische Ausbildung ganzer Heerscharen von Jugendlichen erworben hat. Eine ganz großartige und immer überaus freundliche Frau!
Gleich daneben steht die von Ihnen gezeigte Schule 5 – Juri Gagarin, in die ich von der 3. bis zur 10 Klasse besuchte. Ich weiß nicht, ob die noch stehen und ob Sie die sahen; für die 1. bis 4. Klasse gab es auf dem Schulgelände 4 großzügige extra stehende Pavillons mit je 2 Klassenräumen wo auch der Hort für die Kleinen war. Die “Bierbar” war die zugehörige Schulspeisung – man sieht ja, dass beide Gebäude architektonisch verbunden sind. Eine Schande, wie es da heute aussieht. Ebenso das LUNIK.
Ich hab noch vor der Wende als Ofensetzer in den Wohnkomplexen 1 bis 5 gearbeitet und habe daher das Innere vieler Wohngebäude dort gesehen. Auf Bild 10 kann man z. B. die großen Fensterflächen über dem Tordurchgang sehen. Das waren ganz tolle, großzügige und helle Wohnungen. Die Wohnungen im 1. WK waren dagegen wirklich Muckelbuchten mit 2m30 Deckenhöhe und kleinen Räumen, in der Wohnungsnot nach dem Krieg jedoch immer noch Gold..
Sie schrieben, dass Sie die Leninallee (Lindenallee) für etwas überdimensioniert halten und dass sie die Ruhe in den Wohnkomplexen (auch) auf die Art der Bebauung zurückführen.
Ich muss das mal etwas gerade rücken. Sie haben die Stadt jetzt erst kennengelernt und können nicht wissen, dass “Hütte” zu DDR-Zeiten eine völlig andere Stadt war. Heute ist das Durchschnittsalter in EH gefühlt 65 – 70 Jahre.
Meine Eltern sind 1962 nach EH gekommen und waren da noch nicht mal 20 Jahre alt. Alle, die nach EH kamen, waren in diesem Alter, so dass die ganze Stadt im Grunde fast ausschließlich aus sehr jungen Leuten bestand, die aus der ganzen DDR kamen und in EH als Arbeiter und Ingenieure arbeiteten.
Die bekamen alle Kinder (meine Generation), so dass die ganze Stadt voll war mit jungen Leuten und deren Kindern.
Ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll, damit Sie mir das glauben und das nachvollziehen können, aber die Stadt war damals proppevoll mit jungen Leuten und Kindern, laut, voller Kindergeschrei, Geklapper und Geschepper, Moped- und Trabi-Sound. Die Straßen und Höfe – auch die Leninallee – waren zu jedem Wochentag voll von Leuten und Leben – die kamen gar nicht nach, für die vielen Kinder die Schulen zu bauen. Ich hatte viele Freunde und überall kannte man andere Kinder und Jugendliche. Es war immer was los und das blühende Leben dort können Sie sich gar nicht vorstellen… ebenso die – mir von meinen Eltern mitgeteilte – Aufbruchstimmung in den 50ern und 60ern der jungen Leute.
Die Stadt ist heute dagegen völlig ausgestorben und leer. Sie, Mareike, haben die leider auch so kennengelernt.
Die heutige Stille in den Höfen kommt nicht von der Bauweise. Sie kommt daher, dass die Stadt einer demografischen Katastrophe unterliegt und sich seit 1989 entvölkert. Meine Generation +/- 10 Jahre ist nach der Wende bis auf ein paar Leute im Grunde komplett weg. Geblieben sind nur die Alten, die jetzt wegsterben. Es kommt auch kein bzw. kaum neuer Nachwuchs nach, da dort kaum noch junge Leute leben. Die Stadt ist heute eine Stadt der Alten und ganz Alten und wird irgendwann nur noch ein verlassenes Freilichtmuseum sein.
Für jemanden, der dort aufgewachsen ist, ist diese Entwicklung der allmählichen Auflösung, die Stille und die “Grab”-Ruhe dort einfach nur deprimierend und ich fahre da nicht mehr hin, außer vielleicht nochmal ans Grab der Eltern.
Eisenhüttenstadt, das als Planstadt seine eheste Entsprechung wohl in Wolfsburg hat, ist aber m. E. ein gutes Beispiel für eine künstlich implanierte Siedlung, die sich nach partiellem Wegfall der Voraussetzungen (in EH gab es nicht nur das EKO, sondern noch andere Großbetriebe, die es heute nicht mehr gibt) wieder zurückentwickelt. Hätten die nach der Wende auch das EKO dichtgemacht, würde es heute wohl nur noch die schon vorher existienten Ortschaften Fürstenberg/O. und Schönfließ geben, zwischen die die Planstadt gesetzt wurde.
Auch gab es wohl noch andere Gründe für die Errichtung Eisenhüttenstadts an dem Ort. Meines Wissens nach gab es schon vor 1945 deutsche Planungen für ein Eisenhüttenwerk dort, in dem nach zu gewinnendem Krieg Eisenerze aus Schlesien und der Ukraine verhüttet werden sollten. Indiz dafür ist das auf Höhe Vogelsang an der Oder heute noch als Ruine befindliche große Kraftwerk, das zwar noch fertig gestellt aber wohl nicht mehr in Betrieb genommen werden wurde. Auch gab es in Fürstenberg schon vor Kriegsende unterirdische Rüstungsfertigungsanlagen der DEGUSSA. Noch heute stehen die DEGUSSA-Häuser in der Cottbuser Straße – siehe auch hier: https://www.deutschlandfunk.de/ruestungspark-der-nazis-100.html
Es ist also nicht auszuschließen, dass die DDR-Kommunisten einfach einen Nazi-Plan ausgegraben und als den Ihren ausgegeben haben… Ich hatte dazu auch mal eine entsprechende Publikation. Wenn ich die nochmal finde und Sie sich dafür interessieren kann ich Ihnen die zusenden.
Nochmal vielen Dank und beste Grüße – Hendrik
Hallo Hendrik. Vielen Dank für ihren Kommentar und ihren Beitrag zu meinem Blog. Ich freu mich, dass ihnen meine Bilder und mein Artikel über ihre Geburtsstadt gefallen. Mit ihren Ergänzungen und persönlichen Erinnerungen, die sie mit den Gebäuden verbinden, ermöglichen sie mir und allen Lesern nochmal eine ganz neue Blickrichtung auf die Stadt und mach die Bilder lebendig. Ganz herzlichen Dank dafür! Wie das Leben in Eisenhüttenstadt früher war, dass die Straßen belebt waren mit jungen Leuten und spielenden Kindern war uns damals bei der Stadtführung tatsächlich nicht bewusst vor Augen.
Wenn sie die Publikation bzgl. des etwaigen Nazi-Plans nochmal finden, würde ich mich freuen, wenn sie mir diese senden würden. Das ist ein interessanter Punkt, und die Grundsätze des Städtebaus waren dann gar nicht so verschieden.
Schöne Grüße, Mareike
Liebe Mareike, eigentlich brauchte ich auf dem Weg nach Osten nur ein günstiges Zimmer für eine Nacht und bin eher zufällig in Eisenhüttenstadt gelandet. Während der Fahrt habe ich dann einmal aus Neugierde ein wenig zu der Stadt gegoogelt, über die ich so gut wie nichts wusste, und bin hier gelandet. Der tolle Blogbeitrag, aber auch der rührende Kommentar von Hendrik Hammer waren eine großartige Einstimmung auf einen Ort, von dem ich gar nichts erwartet hatte und den ich nun gut vorbereitet und staunend mehrere Stunden lang erkunden konnte. Vielen Dank!!
Hallo Karsten. Schön, dass du dir die Stadt angeschaut hast und es freut mich, dass dir mein Blogartikel beim Erkunden geholfen hat. Genau so soll es sein 🙂 Danke für dein Feedback!
Liebe Grüße, Mareike