Ukraine. Es ist kurz vor Ostern. Ausgeschnittene Papierosterhasen liegen auf dem Boden. Ein weiterer sitzt auf der Fensterbank. Unter dem Staub sind noch Farben zu erkennen. Gelb und braun. Dazu rote Mäulchen, die wie Puppenmünder mit zu viel Lippenstift wirken. Es gibt noch andere Tiere. Ein ausgeschnittener Braunbär wartet neben dem Hasen auf der Fensterbank und ein Wandbild zeigt eine trinkende Tigerfamile. In anderen Räumen liegen Schulhefte verstreut und es hängen Poster mit kyrillischen Schriftzeichen an der Wand. In zwei anderen Räumen reihen sich Kinderbetten aneinander. Nur die Metallgestelle und einzelne Kissen sind noch übrig. Auf einem Bett leisten sich ein runder Igel und eine Puppe Gesellschaft. In diesen Räumen wurde unterrichtet, gespielt, gelacht und geschlafen. Vor 33 Jahren. Seitdem sind die Räume verlassen und kein Kind hat sie mehr betreten. Dafür kommen jedes Jahr mehrere Tausend Touristen, welche die Sperrzone aus verschiedensten Beweggründen besuchen. Ich besuche Tschernobyl, um hier zu Fotografieren und mit meinen Bildern etwas festzuhalten, etwas in das Bewusstsein zu rufen und vor dem Vergessen zu bewahren.
Inhaltsverzeichnis und Schnellnavigation
Der Kindergarten von Kopachi
Evakuierte und Rückkehrer
Tourismus in der Sperrzone
Liquidatoren – die Helden von Tschernobyl
Der Ort Prypjat
Vergnügungspark von Prypjat
Der Sarkophag
DUGA-3 Radarstation
Die Natur kommt zurück
Kindergarten von Kopachi
Der Kindergarten gehört zu dem ehemaligen Dorf Kopachi. Er liegt neben der Zufahrtstraße nach Tschernobyl, rund um ihn wächst Wald. Andere Gebäude sehen wir jedoch nicht. Denn das Dorf Kopachi mit damals 1.114 Einwohnern existiert heute nicht mehr. Es liegt innerhalb der 30 Kilometer Sperrzone, die nach dem Unglück um den havarierten Reaktorblock eingerichtet wurde. Innerhalb dieser Sperrzone wurden alle Holzhäuser aus Brandschutzgründen niedergerissen und anschließend begraben. Von dem Dorf Kopachi blieben demzufoge nur zwei Steinhäuser übrig. Eines davon ist der Kindergarten.
Es ist ein bedrückendes Gefühl hier. Eine Mischung aus Trauer und Wut macht sich in meiner Brust bemerkbar. Ich halte meine Kamera fest und mache noch ein paar Fotos von den liebevoll gemalten Papierosterhasen und den bunten Matrjoschkas an der Wand. Doch dann verlasse ich das Gebäude. Denn eine große Besuchergruppe aus einem Reisebus macht sich auf den Weg zur Eingangstür. Ich möchte mit meinen Eindrücken lieber noch eine Weile allein sein.
Evakuierte und Rückkehrer
Am 26. April 1986 ereignete sich das Reaktorunglück im Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl. Doch erst am 27. April 1986, 36 Stunden nach dem Unglück, begann die Evakuierung der ca. 50.000 Einwohner von Prypjat. Ab dem 2. Mai wurden dann die Einwohner von Tschernobyl evakuiert. Am 4. Mai begann anschließend die Evakuierung der Menschen aus der 30 km Zone. Bis zum 5. Mai haben 160.000 Menschen ihre Wohngebiete verlassen, außerdem wurden über 70 Orte aufgegeben. Zur Erinnerung an diese aufgegebenen Orten wurde in der Stadt Tschernobyl ein Denkmal gesetzt. Es besteht aus Ortsschildern, die sich wie Kreuze an einem Weg entlang aufreihen.
Insgesamt mussten aufgrund des Unglücks 330.000 Einwohner evakuiert werden. In der ihnen zugedachten neuen Heimat wurde sie jedoch nicht immer willkommen geheißen sondern bisweilen als radioaktiv Verstrahlte diskriminiert.
Einige der umgesiedelten Menschen sind aber wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Manche sogar schon ein Jahr nach der Katastrophe. Sie leben seitdem ohne Strom und fließend Wasser im lebensfeindlichen Gebiet, manche bereits seit etwa 30 Jahren. Wie viele Menschen genau im Sperrgebiet leben ist allerdings unbekannt. Schätzungen gehen von etwa 200 Personen aus. Eine offizielle Rückkehr ist dabei nur Erwachsenen mit einem Mindestalter von 50 Jahren gestattet.
Neben den Rückkehrern, die dauerhaft in der Sperrzone leben, gibt es außerdem etwa 3.000 Menschen, die im Sperrgebiet arbeiten. Und zwar zumeist in Zwei-Wochen-Schichten. Viele von ihnen leben in der 50 km entfernten Stadt Slawutytsch, die als Ersatz für Prypjat nach der Katastrophe neu errichtet wurde. Inzwischen leben in der neuen Stadt etwa 25.000 Menschen, der Altersdurchschnitt liegt bei 30 Jahren. Der Durchschnittsverdienst ist etwa doppelt so hoch wie im Rest des Landes, daher ist die Stadt für viele junge Leute attraktiv.
Tourismus in der Sperrzone
Seit Juli 2011 ist die Sperrzone um den havarierten Reaktorblock für Besucher geöffnet. Die Besucherzahlen wachsen seitdem kontinuierlich. Im Jahr 2018 waren es 70.000 Gäste. Für 2019 werden 90.000 Besucher erwartet. Diverse Agenturen bieten Touren in die Sperrzone an. Manche davon beinhalten sogar einen Besuch der Babuschkas, also der älteren Damen, die in ihre Heimat zurückgekehrt sind.
Inzwischen gibt es zudem ein Hostel sowie mehrere Restaurants in Tschernobyl. An dem Checkpoint, der die Zufahrt zum Sperrgebiet regelt, gibt es eine breite Auswahl an Souvenirs zu kaufen. Angeboten werden beispielsweise Postkarten, Bücher, Kühlschrankmagnete und T-Shirts. Ich fühle mich ein bisschen wie im Mekka des Sensations- und Katastrophentourismus.
Aus welchen Beweggründen mehrere Zehntausend Menschen den Ort jedes Jahr besuchen ist sicherlich sehr unterschiedlich. Die einen haben ein ernsthaftes Interesse an der Geschichte, die anderen lediglich ein Interesse an geschmacklosen Fotos für Instagram. Doch ich hoffe sehr, dass dieser Ort jeden Besucher zum Nachdenken bringen wird. Schon allein aus Achtung vor den Opfern und Hinterbliebenen.
Es gibt bereits Ideen, die Stadt für die Aufnahme in die UNESCO Welterbeliste anzumelden. Das dokumentarische Erbe im Zusammenhang mit dem Unfall wurde dafür bereits im Jahr 2017 gelistet. Denn die Dokumente, die im Staatsarchiv der Ukraine aufbewahrt werden, sollen dazu beitragen, die Gründe der Katastrophe und ihre globalen Folgen zu verstehen. Während der Sowjetzeit war eine Vielzahl der Dokumente der Geheimhaltung unterstellt. Die Freigabe dieser Dokumente in der unabhängigen Ukraine erweitert daher jedes Jahr die Basis für die Erforschung des Reaktorunglücks.
Doch Tschernobyl ist mehr als nur ein Mekka des Sensations- und Katastrophentourismus. Es ist nämlich in den vergangenen Jahren zum Sinnbild der Anti-Atomkraft-Bewegung geworden. Eindringlich erinnert es als Mahnmal an die Gefahren der Atomkraft und an die größte jemals von Menschen gemachte Katastrophe. Eine Katastrophe, die wir nicht vergessen dürfen.
Die Liquidatoren – die Helden von Tschernobyl
Ein Besuch in der Sperrzone führt auf jeden Fall zu starken Emotionen. Dazu zählen Trauer und Mitgefühl für die vielen Opfer. Außerdem Hochachtung gegenüber den Helden, den Liquidatoren, die nach dem Reaktorunglück den Reaktor sicherten und aufräumten. Aber insbesondere gehört Wut zu den Emotionen, die aufkommen. Wut auf das System, das die Betroffenen im Unklaren ließ und damit länger als nötig der Strahlung aussetzte. Denn die Ereignisse und Gefahren waren zu der Zeit nur den wenigsten bekannt.
Wie viele Liquidatoren nach dem Reaktorunglück vor Ort ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um andere Menschenleben zu retten, ist weiterhin unklar. Verschiedene Quellen berichten von 500.000 bis 800.000 Personen. Menschen, die ab einem gewissen Zeitpunkt wussten, dass sie körperliche Schäden erleiden oder sogar den Tod riskieren. Aber dennoch setzten sie ihre Arbeit fort. Sorgfältig und gewissenhaft. Mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Geschützt mit selbstgebastelten Anzügen und auf dem Rücken festgebundenen Bleiplatten kämpften sie gegen einen unsichtbaren Feind.
Der Ort Prypjat
Ich steige aus dem Minibus aus und merke gleich, dass der Wind aufgefrischt hat. Eine Bö wirbelt Staub von der Schotterpiste auf. Ich halte mein Halstuch vors Gesicht, decke zudem Mund und Nase ab und atme vorsichtig. Nur keinen Staub einatmen. Denn die größte Strahlenbelastung kommt von innen. Von winzigen Partikeln, die über die Nahrung oder Atemluft aufgenommen werden. Aus diesem Grund ist auch das Essen und Trinken im Freien innerhalb der Sperrzone nicht erlaubt.
Prypjat liegt etwa 4 Kilometer von dem havarierten Reaktorblock entfernt. Im Jahr 1986 vor der Katastrophe zählte die Stadt 50.000 Einwohner. Das Durchschnittsalter lag bei ca. 26 Jahren. In der Stadt lebten mitunter 15.500 Kinder. Gegen Mittag des 27. April wurde die Bevölkerung dann schließlich aufgefordert, sich auf eine dreitägige Abwesenheit einzurichten. Die Einwohner wurden dabei in dem Glauben gelassen, nach ihrer Evakuation bald wieder zurück zu können. Die verbleibenden Möbel und Einrichtungen erzählen nun ihre Geschichten.
Aufgrund der Einsturzgefahr war es bei meiner Tour zu Ostern 2019 allerdings nicht mehr möglich, die Gebäude zu betreten.
Vergnügungspark von Prypjat
Der Vergnügungspark von Prypjat ist eines der bekanntesten Motive aus der Sperrzone. Das große Riesenrad gilt dabei als eines der eindrücklichsten Mahnmale für die nukleare Katastrophe. Der Park wurde für die Feierlichkeiten zum 1. Mai 1986 aufgebaut. Einen Tag nach der Tschernobyl-Katastrophe wurde der Park dann für Besucher vorzeitig geöffnet. Er sollte somit für Ablenkung zu sorgen. Doch nach nur wenigen Stunden begann die Evakuierung der Stadt.
Der Sarkophag
Um den Reaktorblock 4 wurde nach der Havarie schließlich eine Schutzhülle aus Stahl und Beton errichtet. Nach 200 Tagen Bauzeit war sie dann fertig und bot einen ersten Schutz gegen die Strahlung. Der alte “Sarkophag” hat jedoch über die Jahre Risse bekommen und drohte einzustürzen. Daher wurde ein neuer Sarkophag in ca. 300 m Abstand zum Reaktor errichtet. Nach fünf Jahren Bauzeit wurde er dann im Jahr 2016 auf Schienen Stück für Stück über die alte Hülle geschoben. Es ist das größte bewegliche Bauwerk der Welt und ist 30.000 Tonnen schwer. Nun soll es die nächsten 100 Jahre lang den Austritt radioaktiver Stoffe verhindern.
Heute erinnert neben dem Kraftwerk ein Denkmal an die Opfer von Tschernobyl.
DUGA-3 Radarstation
Eine schmale, kilometerlange Betonplattenstraße führt uns durch einen dichten Nadelwald direkt zu einem verlassenen Militärgelände. Über den Baumwipfeln können wir stellenweise die riesigen Empfangsantennen der DUGA-3 Radarstation ausmachen. Es ist ein überaus beeindruckendes Bauwerk, das aus einer größeren und einer kleineren Antenne besteht. Die größere ist etwa 450 Meter lang und rund 150 Meter hoch, die kleinere ist hingegen nur etwa 250 Meter breit und 80 Meter hoch. Das hier eingesetzte Überhorizontradar wird auch „Woodpecker“ genannt, denn die erzeugten Geräusche erinnern an das Klopfen eines Spechtes. DUGA-3 war ein Teil des sowjetischen Raketenabwehrsystems. Damit sollte mitunter ein Start von Raketen im europäischen und amerikanischen Raum erkannt werden können. Die Station soll dabei eine Reichweite von über 10.000 km gehabt haben. Nach der Reaktorkatastrophe musste die Station jedoch aufgegeben werden und es gelangten technische Details und Fotos an die Öffentlichkeit.
Die Natur kommt zurück
Doch die Natur holt sich das Gebiet um den havarierten Reaktor langsam aber unaufhaltsam wieder zurück. So wird aus der verlassenen Geisterstadt ein neuer Lebensraum. Birken und Weiden überwachsen inzwischen die freien Flächen. Elche und Wildschweine, Rehe und Wölfe besiedeln die Region. Die Fotofallen haben inzwischen sogar schon einen Braunbären dokumentiert. Um die Artenvielfalt zu erhöhen, wurden hier Przewalski-Pferde angesiedelt, die sich seit einigen Jahren stabil entwickeln. Wir hatten Glück, und haben eine Herde von ihnen gesehen.
Wart ihr selber schon mal in Tschernobyl? Was waren eure Eindrücke? Habt ihr noch Fragen zu meinem Artikel oder weitere Anregungen? Wenn ja, dann schreibt mir doch einen Kommentar!
Ein toller Reisebericht den Du hier geschrieben hast. Schade das die Region geopolitisch nicht zur Ruhe kommt. Leider wird die Sperrzone Tschernobyl nicht mehr so sein wie hier beschrieben. Sämtliche Brücken wurden zerstört und Bunkeranlagen und Befestigungen entlang der Grenze zu Belarus gegraben. Die Babushkas sind hier die am meisten leiden müssen da die Versorgung noch schwieriger geworden ist.
Hallo Marek, vielen Dank für dein Feedback. Ich war damals schon beeindruckt von den Babushkas, die ich leider nie kennen gelernt habe, und habe sie für ihre Zähigkeit bewundert. Dass es nochmal viel härter kommt hätte ich nie gedacht…ich sah eher eine positive Entwicklung für die ganze Region. Aber das wird wohl noch dauern. Als ich den Artikel schrieb, hatte ich auch nicht gedacht, dass mein Titel “Fotografieren gegen das Vergessen” nochmal eine zweite Bedeutung bekommen wird.
Liebe Grüße und alles gute für euch und eure Fototouren!