Rendevouz im Wald – Bei dem Vielfraß in Finnlands wilder Taiga

Rendevouz im Wald – Bei dem Vielfraß in Finnlands wilder Taiga
Rendevouz im Wald – Bei dem Vielfraß in Finnlands wilder Taiga

Finnland. Es ist dunkel. Ich bin alleine in meinem kleinen Fotoversteck mitten in der finnischen Taiga. Nur der Gasofen brennt leise hörbar vor sich hin. Doch dann – ein Schmatzen durchbricht die nächtliche Ruhe. Es ist ziemlich nah. Ich stehe auf und schalte leise das Nachtsichtgerät an, das in einem der Fensterschlitze steckt. Ein Vielfraß. Keine fünf Meter entfernt, massig, muskulös, das Fell dicht, einzelne Regentropfen glitzern auf den Haarspitzen. Seine kräftigen Zähne zerren an einem Stück Fleisch, das er mit einer Pranke festhält. Er schaut kurz auf, seine im Nachtsichtgerät weiß dargestellten Augen blicken mich an. Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken. Dann frisst er weiter. Kurz darauf füllt das Schnattern einer Stockentenfamilie die Dunkelheit.

Wer schmatzt hier?
Auch die Stockenten tragen ihren Teil bei und schnattern laut vor sich hin.

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Herbst in der wilden Taiga

Ich bin unterwegs in der finnischen Taiga, nahe Lieksa im Osten des Landes. Es ist Herbst, die Zeit des Ruska, wenn Birken golden glühen und die Moore in allen Rottönen leuchten. Die Nächte sind schon ordentlich kalt, Mücken gibt es keine mehr. Pilze sprießen, Preiselbeeren und Heidelbeeren sind reif und landen jeden Morgen in meinem Müsli. Mein Weg führt mich heute über Schotterwege tief in den dichten Wald bis zu dem Basislager von Eero Kortelainen alias Erä-Eero. Die Keljänpuro Lodge ist eine alte Holzfällerhütte aus den 1950er Jahren und wurde von Eero selbst renoviert. Zuerst hat Eero hier verschiedene Outdooraktivitäten angeboten, seit 2005 auch Wildtierbeobachtungen. Im Laufe der Jahre wurde Erä-Eero als weltweit bester Ort für die Beobachtung von Vielfraßen bekannt, ein scheues und seltenes Tier, das in freier Wildbahn nur schwer zu beobachten ist. An verschiedenen Stellen gibt es dafür Beobachtungshütten und Fotoverstecke, wo ich mich für die nächsten zwei Nächte einquartiert habe.

Vielfraß auf einem Baum in Finnland
Vielfraße sind geschickte Kletterer
So schön ist der Herbst in Finnland…selbst an einem regnerischen Tag.

Willkommen bei Erä-Eraeo

Ich werde herzlich mit dampfendem Kaffee empfangen. Die Keljänpuro Lodge ist urig gemütlich und die Tierbilder an den Wänden machen Lust, gleich zur Tierbeobachtung aufzubrechen. Doch zuerst gibt mir Sini eine Einweisung. Ich erfahre mehr über die Verstecke, welche Regeln dort zu befolgen sind und wie mein Abend und der nächste Morgen ablaufen werden. Anschließend leihe ich mir noch ein Nachtsichtgerät und packe meine Snackbox und Thermoskanne in mein Auto. Eero und Sini fahren voraus und ich folge mit meinem eigenen Auto. Nach etwa sechs Kilometern passieren wir eine Absperrung und parken unsere Autos vor einer kleinen Holzhütte am Uuronlampi, einem wunderschönen Moorsee, der von hohen Hügeln umgeben ist.

Der Seeadler beobachtet das Geschehen aus sicherer Entfernung.
Der flinke Sperber wartet auf seine Gelegenheit.

Gespannt steige ich aus. Die Holzhütte ist eine luxuriöse Beobachtungshütte mit großen Fenstern, bequemen Lehnsesseln und Ofen. Von hier blickt man einen Abhang hinunter zu einer Wiese, hinter der ein kleiner See liegt. Rechts davon reihen sich drei kleine Fotoverstecke auf, links von der Wiese beginnt der Wald. Da ich der einzige Gast bin, habe ich die freie Wahl und ich suche mir das hinterste Fotoversteck mit Blick auf See und Wiese aus. Während Eero und Sini Futter zum Anlocken der Tiere ausbringen, richte ich mich in meinem Versteck ein. Schnell sind die Kameras in Position gebracht und das Bett und die zwei Stühle mit allerlei Zeug bedeckt. Es dauert eine Weile, bis ich alles für die Nacht an die richtige Stelle verbracht habe, wo ich es auch im Dunkeln finde. Denn nachts bleibt das Licht aus. Sonst verscheuche ich die Wildtiere. Ich werfe den kleinen Gasofen an und inspiziere den Toiletteneimer hinter dem Vorhang. Alles da, was man so braucht.

Blick auf die Wiese vor dem Uuronlampi.
Vielfraß im Fokus

Begegnungen in der Dunkelheit

Kaum sind Eero und Sini mit ihrem Auto verschwunden, kehrt Ruhe ein. Nur Raben und Eichelhäher sind zu hören, ihr Krächzen hallt über den See. Nach einer Weile huscht ein dunkler Schatten durchs Bild. Der Vielfraß. Breit gebaut, tief geduckt, mit fließenden, kraftvollen Bewegungen. Der Seeadler beobachtet alles aus sicherer Entfernung von der Spitze einer Kiefer. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er so schnell auftaucht, und genieße es, ihn durch meine Kamera zu beobachten.

Mit der Dämmerung tauchen drei junge Wölfe am Waldrand auf. Neugierig, doch vorsichtig und mit eingeklemmtem Schwanz. Sie beobachten den Vielfraß, bleiben aber auf sicherem Abstand. Der Vielfraß ist von den Wölfen wenig beeindruckt und frisst weiter. Die Wölfe ziehen sich zurück.

Später, als die Nacht tiefschwarz über dem Wald liegt, zeigt das Nachtsichtgerät eine neue Welt: Tiere mit weißen, geisterhaften Augen durchstreifen die Dunkelheit. Ich kann die drei Wölfe eine lange Zeit beobachten. Auch ohne Vielfraß sind sie sehr vorsichtig. Sie wissen wohl, wer kommt: Zwei große, weiße Augen kommen aus dem dunklen Wald immer näher – ein Bär! Die Wölfe rennen weg und auch der Bär verschwindet wieder lautlos im Dickicht. Gegen Mitternacht schalte ich den Ofen aus und lege mich schlafen.

Erwischt!
Der Bär kommt aus dem Dickicht.
Zwei Wölfe sondieren die Lage.
Auf der Suche nach mehr Futter.

Morgengrauen und Bärenspuren

Am Morgen sitzt der Vielfraß wieder vor der Hütte und sucht nach den Resten des Abends. Ich gieße mir meinen Kaffee ein – lauwarm, aber besser als nix. Nachdem der Vielfraß sich in den dichten Wald zurückgezogen hat, packe ich zusammen und gehe den Hang hoch zu meinem Auto. Ich singe leise ein Lied, damit sich keine Tiere in der Nähe durch mein plötzliches Erscheinen erschrecken. Erst jetzt fällt mir der riesige Haufen Bärenkot auf der Straße auf. Ich beeile mich, zu meinem Auto zu kommen, und fahre zurück zum Blockhaus.

Bärenkot in Finnland
Hier hat einer ziemlich viele Beeren gegessen.

In der Basis wartet ein typisch finnisches Frühstück auf mich: Kaffee, Saft, Porridge mit frischen Moltebeeren, Ei und Karjalanpiirakka, das sind karelische Piroggen mit Milchreisfüllung. Super lecker! Ich erzähle von meinen Beobachtungen und bin noch immer ganz aufgeregt. Während meine Akkus an der solarbetriebenen Ladestation hängen, freue ich mich schon auf meine zweite Beobachtungsnacht.

Leckeres Frühstück in der Keljänpuro Lodge

Artporträt: Der Vielfraß – Gulo gulo, der „Bärenmarder“

Während im Osten Finnlands die Bären und Wölfe im Rampenlicht stehen, bleibt der Vielfraß meist im Schatten. Doch Gulo gulo, der „Bärenmarder“, ist ein faszinierender Einzelgänger. Er ist der größte Vertreter der Marderfamilie und einer der am seltensten beobachteten Beutegreifer Europas. Sein gedrungener, muskulöser Körper, der breite Schädel und das dichte, ölhaltige Fell machen ihn perfekt für das Leben in Schnee und Kälte. Erwachsene, männliche Tiere erreichen bis zu 32 Kilogramm Gewicht, Männchen deutlich mehr als Weibchen. Trotz seiner Größe ist der Vielfraß ein geschickter Kletterer und ausdauernder Wanderer, der weite Strecken zurücklegen kann. Seine Nahrung besteht aus Aas, Kleinsäugern, Vögeln und gelegentlich Rentieren. Insbesondere im Winter bewegt er sich geschickt über den Schnee und viele andere Tiere sind für ihn dann eine leichte Beute. Er legt Vorräte an, die er unter Schnee oder Moos verbirgt. Möglicherweise wird er deshalb auch als Gierling, Giermagen oder Gierschlund bezeichnet.

Vielfraß in Finnland

Vielfraßpopulation in Finnland

Die finnische Vielfraßpopulation zählt etwa 400 Individuen und hat sich von ihrem traditionellen Verbreitungsgebiet in Ost- und Nordfinnland weiter nach Süden ausgebreitet. Der Vielfraß steht in Finnland seit 1982 unter strengem Schutz. Dank dieses konsequenten Schutzes und wissenschaftlicher Überwachung hat sich die Population langsam stabilisiert. Im Vergleich zu den frühen 1990er Jahren hat sich die Population der Vielfraße etwa verzehnfacht. Das Monitoring erfolgt über Fotofallen, DNA-Proben aus Haaren und Kot sowie durch Meldungen lokaler Wildtierbeobachter. Dennoch bleibt der Bestand fragil: Die Tiere benötigen riesige Reviere von bis zu 730 Quadratkilometern in weitgehend unzerschnittenen Landschaften, die in Europa selten geworden sind.

Vielfraß in Finnland

Mythen und Legenden

In der traditionellen Weltanschauung der Sami ist die Natur nicht bloß Kulisse, sondern beseelt: Tiere, Steine, Flüsse und Berge besitzen eine eigene „Personhaftigkeit“. Dieser animistische Glaube, in dem jedes Lebewesen eine spirituelle Bedeutung hat, prägt bis heute die Sami-Kultur.

Der Vielfraß – auf Nordsamisch gearpmát genannt – nimmt darin eine besondere Stellung ein. Obwohl er seltener in den überlieferten Erzählungen vorkommt als etwa der Bär (guovža) oder der Rabe (ráibár), gilt er in vielen Regionen Lapplands als ein Tier, das man mit Respekt und Vorsicht behandelt. In älteren Überlieferungen wurde sein Name teils umschrieben oder vermieden, da man glaubte, das Aussprechen könne Unglück bringen – ein Tabu, das auch bei anderen mächtigen Wildtieren bestand.

Der Vielfraß gilt in der nordskandinavischen Folklore als Inbegriff von Ausdauer, List und Unabhängigkeit. Er steht für eine Kraft, die sich nicht zähmen lässt – ein Wesen, das selbst in tiefstem Winter Nahrung findet und selbst stärkeren Tieren trotzt. In Erzählungen aus Lappland und Nordnorwegen wird er als unermüdlicher Wanderer beschrieben, der keine festen Grenzen kennt und in der Wildnis überlebt, wo andere scheitern.

Vielfraß in Finnland

Konflikte mit der Rentierhaltung

Trotz seiner insgesamt geringen Population ist der Vielfraß die bedeutendste Ursache für Schäden an Rentieren in Fell Lappland, zumal für den Vielfraß ein striktes Jagdverbot gilt. Andererseits hat sich der Wald-Vielfraß außerhalb des Rentierzuchtgebiets ausgebreitet, ohne Menschen Schaden zuzufügen oder zu stören.

Diese Tatsachen werden in dem Vielfraß-Bestandsmanagementplan berücksichtigt, in welchem das Verbreitungsgebiet in drei Regionen aufgeteilt wird: das nördliche und östliche Rentierzuchtgebiet, das übrige Rentierzuchtgebiet und das Waldgebiet Finnlands. Die im Managementplan festgelegten zentralen Maßnahmen beziehen sich auf die Stärkung der Vielfraßpopulation außerhalb des Rentierzuchtgebiets, die Verringerung der durch Vielfraße verursachten Schäden an Rentieren und die Verbesserung der Methoden zur Verfolgung der Vielfraßpopulation. Die Verbindung der Vielfraßpopulationen mit den Populationen in Skandinavien und Russland soll ebenfalls erhalten bleiben.

Dennoch: die Mehrheit der Rentierhalter befürwortet die Anwesenheit großer Raubtiere im Rentierzuchtgebiet, vorausgesetzt, dass die von ihnen verursachten Schäden ersetzt werden und die Raubtier-Populationen kontrolliert werden. Doch um diese Entschädigung zu erhalten, muss das getötete Rentier zuerst gefunden werden. Dafür werden die Rentiere mit Ortungshalsbändern ausgestattet, die sich einschalten, wenn das Tier sich nicht mehr bewegt, sodass die Hirten die Kadaver lokalisieren können. Um Schäden durch große Raubtiere zu verhindern, haben einige Rentierzüchter zudem begonnen, ihre Rentiere während der Wintermonate einzuzäunen.


Zurück im Wald beim Vielfraß

Ich sah den Vielfraß auch während meines zweiten Aufenthaltes in der Beobachtungshütte. Auch die Wölfe und Raben waren wieder vor Ort. Diesen Abend beobachtete ich das Treiben der Tiere vor meiner Hütte noch ein bisschen länger. Wie froh war ich, dass ich mir das Nachtsichtgerät ausleihen konnte. Ich hätte ja sonst gar keine Vorstellung gehabt, was da um mich rum alles passiert. Am nächsten morgen, bei Tageslicht, ist die Szenerie wieder wie ausgewechselt, eine andere Welt. Wieder singe ich leise ein Lied, während ich den Schauplatz von gestern Nacht verlasse. Oben am Hang schaue ich mich nochmal um, vielleicht steht da ja doch noch wer, der sich verabschieden will?

Wolf in Finnland

Mehr Infos zu den Tieren

Metsähallitus Parks & Wildlife Finland: https://www.largecarnivores.fi/species/wolverine.html

IUCN Red List: https://www.iucnredlist.org/species/9561/45198537


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